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Verstörtes Sehnen im Sog der Verzweiflung: Das Theater Elch spielt Sarah Kanes «Gier» im Berner Münster

Verfasst von Eva Buhrfeind | |   Theater

Das vierte Stück der englischen Dramatikerin Sarah Kane, «Gier», ist ein radikalisiertes Gedicht über die verstörte Sehnsucht nach Liebe mit dem Tod als Erlösung. Die Inszenierung des Theater Elch im Berner Münster mäandert gleichermassen radikal von einer anfänglich existenziellen Eindrücklichkeit zur quälend zähen Irritation.

Da sitzt man nun, wo sonst der Pfarrer steht, blickt auf die leeren Kirchenbänke, zwei Männer in der linken Reihe, zwei Frauen in der rechten, sonst nichts. Die Erhabenheit des Münsters bildet die Bühne für diese vier Gestalten, die keine Namen haben, keine Identität. Selbst ihre Sprache fügt sich zusammen aus Versatzstücken einer vagen Vergangenheit. «Was willst Du ? - Sterben!» Was danach kommt, der Tod, ist ihre einzige Hoffnung. Keine Handlung also, absolut nichts. Alles ist reduziert auf die Sprache, die allein in der Leere des hohen spätgotischen Raumes Geschehen evoziert um das Leid des Lebens, um Macht und Machtmissbrauch von Seele und Körper im Namen der Liebe.

Hoffnungslose Hoffnung
Minimal sind die theatralischen Gesten der Darsteller (Andreas Debatin, Thomas U. Hostettler, Sonja Gertsch, Patricia Bornhauser), ansonsten sitzen sie in ihrer Bank: der alte Mann mit seinem pädophilen Liebesgeständnis, der junge aggressive Zyniker, das verzweifelte junge Mädchen, die sich desillusioniert sehnende Frau - und reihen ihre Erinnerungsfragmente, ihre klammen Rechtfertigungsversuche, ihre einsamen Gefühlsfetzen aneinander. Aggressiv, zärtlich, fordernd, verzweifelt, flehend, ringen sie mit den Worten der Liebe, der Verzweiflung, der Angst, dem Seelenschmerz, der (Todes-)Sehnsucht, doch ihre diffuse Hoffnung wirkt hoffnungslos. Da tönen Beziehungen an und dann wieder nicht, sie haben gemeinsame Schicksale und sind sich dennoch fremd; als ob verschiedene Personen aus einer Stimme und verschiedene Stimmen aus einer Person sprechen würden - für sich, für andere, miteinander, aneinander vorbei. Immer wieder, fast manisch in der ermüdenden Repetition, bis der erlösende Bruch der Worte verpasst und die Schmerzgrenze fürs Publikum überschritten ist.

Vierstimmiges Schmerzenslied
«Gier» (im Originaltitel «Crave») als das Sehnen, Verlangen nach Liebe und Schmerz zu verstehen, hört sich hier an wie das Werk einer Verzweifelten über die Verzweiflung, die jeglichen Glauben verloren hat ausser an den erlösenden Tod. Und so scheint es, als hätte die ausgebildete Schauspielerin und Autorin, die im Alter von 28 Jahren freiwillig aus dem Leben geschieden ist, hier ihre eigene (Lebens-)Dramaturgie zu multiplen Existenzen eines Schmerzensliedes gefügt. Sarah Kane, die schon mit ihren ersten Werken als eine der Jungen Wilden Dramatiker Englands das Publikum zu schocken wusste, wurde durch ein Elternhaus bekennender Evangelisten geprägt. Obwohl sie ihre Religiosität verlor, berührt sie mit biblischen Zitaten wie auch psychodramatischen Momenten eine christliche Heilsbotschaft.

Requiem der Verstörung
Für die Theatergruppe Elch um Regisseur Michael Oberer und den Schriftsteller und Dramaturgen Christian Haller war somit die Kirche, das Berner Münster, der adäquate Ort, um in seiner Grösse die Hilflosigkeit und Verlorenheit dieser Menschen gegenüber den letzten existentiellen Fragen zu verdeutlichen. Der Ort mit seiner kontemplativen Atmosphäre ist gut gewählt für dieses leidvolle Sehnen. Wenn auch dieses Requiem der Verstörung spannungsvoll, ja intensiv beginnt, so reduziert sich mit zunehmender Länge in der statischen Kargheit von Oberers Inszenierung die selbstquälende Hoffnungslosigkeit auf ein Schattenreich der manisch ohnmächtigen Worte. Die Radikalität des Stoffes gerät in dieser Interpretation nicht zum wirksamen Schock, sondern zu einer exzessiv-expressiven Monotonie.
«Gier» im Berner Münster. Weitere Aufführungen: 18. bis 21., 24. bis 28. Oktober 2001, jeweils 20.30 Uhr.

 

Erhabene Kulisse: Das Berner Münster 2001 als Bühne für Sarah Kanes «Gier» mit Andreas Debatin, Thomas U. Hostettler, Sonja Gertsch und Patricia Bornhauser.
Erhabene Kulisse: Das Berner Münster 2001 als Bühne für Sarah Kanes «Gier» mit Andreas Debatin, Thomas U. Hostettler, Sonja Gertsch und Patricia Bornhauser.