«Die Welt ist eine Sehweise», aber jede noch so objektive Wahrnehmung bleibt letztendlich doch subjektiv, ein persönliches Bild über innere Stimmungen, individuelle Klischees einer festgelegten Wirklichkeit, die oftmals das Verborgene oder Unerkannte retouchiert.
Ausgangspunkt dieses Wahrnehmungsprojektes dreier so unterschiedlicher Sehweisen, der fotografischen, malerischen wie literarischen - begleitet vom Langendorfer Zeichenlehrer Peter Jeker, der auch die ausführliche Einleitung schrieb - war das Emmental. Doch nicht als folkloristisch typisierte Region mit den charakteristischen Merkmalen, die doch nur Hülle sind, sondern als Anreiz für Bilderfahrungen und -werte, ihrem Austausch, dem Dialog und den Kontrasten.
Alain Stouder erwandert, erspürt und fotografiert das Emmental
18 Monate hat Alain Stouder immer wieder das Gebiet um Affoltern i.E. erwandert, erspürt und fotografiert, ebenso unprätentiös wie intim. Dabei hat er Menschen, Häuser, Gerätschaften ebenso gemieden wie das Vertraute, dafür hat er das rein Landschaftliche präzisiert, hat kleine Ausschnitte von Hang zu Hang, vom Tal zum Hang und umgekehrt herangeholt, sich auf Elementares konzentriert: Hügel und Mulden, Wege, Zäune, Felder, Ackerfurchen, Begrenzungen, Licht und Schatten, Nebel und Tau, der dünne Schnee, Einflüsse der Jahreszeiten, der Witterungen, willkürliche oder gewachsene Spuren. Ist so zur Anonymität einer topografischen Anatomie aus Linien, Flächen, Bewegungen, Strukturen vorgedrungen, wo Abläufe von Jahreszeiten und Tageszeiten, die einmaligen unwiderruflichen Bildmomente ihre Zeichen setzen. Gleichzeitig hat er über den wechselnden Standpunkt und mittels der Kamera neue Räume geschaffen mit einer faszinierenden Illusion von Ferne und freiheitlicher Höhe.
Jörg Mollet lässt sich durch Alain Stouders Dias inspirieren
Jörg Mollet bildet bekannterweise keine scheinbaren Realitäten ab, sondern arbeitet stets über die Energie aus dem inneren Wesen heraus. Durch Alain Stouders Dias inspiriert, bereiste Mollet das Emmental selbst. Doch seine Position ist eine fiktive, sein Wahrnehmungsprozess dieser Landschaft vollzieht sich in einem künstlerischen Prozess des Wachsens und Wandelns nach in sichtbaren und unsichtbaren Strukturen, in Schichtungen auf Chinapapier mit dem geometrischen, teils collagierten Aufbau als topografische Grundordnung, im Wechselspiel aus Transparenz und opaker Dichte, die Darunterliegendes durchlassen oder verdecken, reduziert auf Schwarz und Weiss in den kleinformatigen Arbeiten, um in den grösseren doch wieder Farbe zuzulassen. Und abstrahiert ebenfalls aus den Empfindungen und Gedanken, die aus dem Dialog, beim Sehen und Erleben entstehen, die Emmentaler Landschaft zur allgemeingültigen Authentizität aus Zeichen, Licht und Schattenräumen, Linien, Flächen, Feldern, kalligraphischen und naturhaften Rhythmen.
Diese doch sehr persönliche Gegenüberstellung von Sehweiten, die miteinander korrespondieren, sich befruchten aber auch ergänzen, wurde durch den Basler Journalisten und Schriftsteller Aurel Schmidt zu philosophischen Betrachtungen erhoben. Und beweist in dieser textualen Resonanz das Allgemeinbegriffliche des Landschaftlichen im Sehen und das Sein.
(Ausstellung Kunstraum im Kunstraum Burgdorf bis 21. Januar 1996, Mi- Fr 15-19, Sa+So 11-17 Uhr. Buch: 64 S. mit 15 Farbfotografien von Alain Stouder, 15 Tuscharbeiten (Duplexabbildungen) von Jörg Mollet. Friedrich Reinhard Verlag Basel/Berlin 1996, 48 Fr.)