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Mächtige Zerreissprobe: Goethes «Iphigenie auf Tauris» in Bern

Verfasst von Eva Buhrfeind/Bern | |   Theater

Mit Goethes «Iphigenie auf Tauris» gelingt dem Berner Stadttheater eine fesselnde Parabel um Ehrlichkeit, Integrität und Humanität in einer Welt der Gewalt und Zwänge. Die Nüchternheit des Alten Schlachthauses gibt für die lebendige Inszenierung Wolfgang Krempels den geeigneten, modernisierenden Rahmen ab.

Nun also hat sich der Kreis der Gewalt geschlossen, fordert der Fluch auf dem mörderischen Tantalidengeschlecht nochmals zu einem jetzt seelisch schmerzhaften Konflikt heraus: Soll sie, Iphigenie, von ihrem Vater Agamemnon als Kriegsopfer preisgegeben, von der Göttin Diana gerettet und in deren Heiligtum in Tauris als Priesterin eingesetzt werden? Soll sie den ihr zugeneigten König Thoas hintergehen, die Fluchtpläne Orestens und seines Freundes Pylades decken? Oder soll sie aus «angeborener Ehrlichkeit» und tiefem Verantwortungsgefühl die Flucht dem König offenbaren?
Eine übermächtige Zerreissprobe öffnet sich zwischen Wahrung der Ideale und Menschlichkeit, vertieft durch die Blutsbande. Die junge Frau steigt aus dem schmerzhaften Kampf auf mit dem Mut zur Wahrheit.
Schon der alte Humanist par exellence, Johann Wolfgang von Goethe, hat gewusst, dass von nichts nichts kommt, dass Ehrlichkeit, Menschlichkeit, Güte wie auch die Freiheit nicht nur an uns Menschen, sondern vor allem durch uns geschieht, überlässt so in seinem Schauspiel - er entnahm den Stoff von Euripides' Drama mit nur wenigen, jedoch tiefgreifenden inneren Änderungen - die Lösung des Konflikts nicht den Göttern, sondern menschlicher Moral und Selbstfindung.

Seelenkämpfe
Die äusserst sparsamen Handlungselemente und der einzige Schauplatz, der karg eingerichtete Tempelraum beherrscht von einer überlebensgrossen Statue und einer blutigen, gekachelten Schlachthofecke als Allegorie von zeitloser Gültigkeit (Bühne: Werner Hutterli), erreichen ihr dramaturgisches Gewicht durch die nach aussen gestülpten inneren Empfindungen und
Seelenkämpfe der Protagonisten: Iphigeniens intensive, qualvolle wie erkenntnisbringenden voll ausgelebten Monologe der Selbstbefragung, der Reflexion, des Zweifels an der eigenen Integrität und Entscheidung, des Haders mit dem unfreiwilligen, nicht zu ertragenden Exil.

Wechselbäder
Gudrun Gabriel, zart-ätherisch mit der unschuldigen Reinheit eines Gretchens, gerät in ihrem schmerzhaften wie ergreifenden Ringen um den richtigen Weg, in ihren aus tiefster Seele empfundenen und verinnerlicht umgesetzten Wechselbädern zwischen Euphorie und innigem Schmerz, Wirrungen und Hoffnungen ab und zu in einen stilisiert-exaltierten Ausdruck, wenn sie ihre Mimik, ihre Gefühle überakzentuiert. Dem stehen ergreifende Dialoge des gegenseitigen Einkreisens, der Annäherung an den von den Furien gehetzten Bruder Orest (Stefan Suske) gegenüber: verzweifelt, verbittert, emotional hin- und hergerissen zwischen Wahn, selbstzerstörerischer Befreiung vom Fluch und Liebe zur Schwester. Sein Freund Pylades (Markus John) verkörpert das pure Gegenteil: optimistisch und dreist-kämpferisch.
Es gibt distanzierte Zwiegespräche mit dem väterlich beratenden Arkas (Klaus Degenhardt) und die Standpunkt-ortenden Auseinandersetzungen mit dem König Thoas (Mathias Brambeer), in denen sie sich mit Ausflüchten durchlavriert, und er, ein edler wie stolzer Mann, aufrichtig in der Zuneigung und unbeherrscht im Zorn, sich zu Recht verletzt zeigt und zum Schluss gleichfalls Grösse und Würde beweist, wenn er die Griechen mit einem «Lebewohl» ziehen lässt, dabei in der Schlüsselrolle «Entsagung» zurückbleibt. Humanität nicht nur als abgehobener Edelmut, sondern ein schmerzhafter Schritt, der Opfer fordert.

Straff inszeniert
Eine enggewobene Struktur an gewaltigen wie aktuellen Worten, deren Kraft und Poesie sich in der straffen, lebendigen wie sensitiven Inszenierung Wolfram Krempels wie ein undurchlässiges Netz der Spannung nicht nur über die eher statische Handlung legt und sie ununterbrochen zusammenhält, sondern auch das Publikum jede Minute in den Bann zog, das sich zu Recht begeistert zeigte.

Gudrun Gabriel in der Titelrolle von Goethes Klassikers «Iphigenie auf Tauris».
Gudrun Gabriel in der Titelrolle von Goethes Klassikers «Iphigenie auf Tauris».